Zeile für Zeile | Meine eigene Wüste | Zeile für Zeile | Mein Paradies
Vorspann:
Im Schlamm fing es an, wie so vieles.
In einer normalen Welt wäre Frühstückszeit gewesen, aber in der Hölle wurde offenbar kein Frühstück serviert; das Bombardement, das vor Tagesanbruch losgegangen war, sah nicht danach aus, als wollte es nachlassen. Dem Gefreiten Jonas stand der Sinn ohnehin nicht nach Essen.
Kapitel 1
Einer der anderen Dozenten stieß die Tür der Bürozelle auf und beugte sich hinein.
Der Lärm vom Korridor kam mit hereingeschwappt, lauter als gewöhnlich.
»Bombendrohung.«
»Schon wieder?« Renie stellte ihr Pad auf den Tisch und nahm ihre Tasche. Dann fiel ihr ein, wie viele Sachen während des letzten Alarms auf Nimmerwiedersehen verschwunden waren, und sie griff sich noch das Pad, bevor sie in den Flur trat. Der Mann, der ihr Bescheid gesagt hatte – sie konnte sich einfach seinen Namen nicht merken, Yono Soundso –, war ihr mehrere Schritte voraus und im Strom der gemütlich zu den Ausgängen schlendernden Studenten und Dozenten schon kaum mehr auszumachen. Sie ging schneller, um ihn einzuholen.
Im Nachhinein ist es wohl immer schwierig, zu entscheiden, welche Tage das Leben bestimmen.
Einige sagen, es wäre jeder einzelne. Jede Stunde, Minute, Sekunde, jeder verdammte noch so kleine Augenblick. Obwohl es keine Zeitpunkte gibt. Damals, Grenzwertberechnung, elfte Klasse. Die Erkenntnis ernüchternd: kleine Intervalle. Lassen wir sie gegen Null laufen und bestimmen wir die Steigung. Ich habe nie daran geglaubt.
Wie allgemein bekannt, dreht sich das Weltall - wie auch das Leben - im Kreis.
Es ist ein Rad, auf dessen Felgen acht magische Punkte markiert sind, die eine ganze Umdrehung ergeben, also den Jahreszyklus. Diese Punkte, die sich auf der Radfelge paarweise genau gegenüber liegen, sind: Imbaelk oder die Knospung, Lammas oder die Reife, Belleteyn oder die Blüte und Saovine oder das Absterben. Auf dem Rad sind auch die beiden Sonnenwenden bezeichnet, Midinvaerne im Winter und Midaëte im Sommer. Des Weiteren gibt es die beiden Tagundnachtgleichen, Beith im Frühjahr und Velen im Herbst. Diese Daten teilen den Radumfang in acht Teile - und so wir im Elfenkalender auch das Jahr unterteilt.
Im Gebüsch rumorten Vögel.
Die Hänge der Schlucht waren mit dichtem Gestrüpp von Brombeeren und Berberitzen überwuchert, ein traumhafter Ort zum Brüten und zum Fressen; es war also kein Wunder, dass es dort von Vögeln wimmelte. Hingebungsvoll trillerten Grünfinken, zwitscherten Hänflinge und Grasmücken, alle paar Augenblicke ertönte auch das kräftige "pinkpink" eines Buchfinks. Der Fink kündigt Regen an, dachte Silva und schaute instinktiv zum Himmel. Es waren keine Wolken zu sehen. Aber Finken kündigen immer Regen an. Ein wenig Regen würde nicht schaden.
Nur wenige dinge wecken so schnell alte Erinnerungen wie Autoritätspersonen aus unserer Jugend.
Damit will ich nicht behaupten, dass das unbedingt schöne Erinnerungen sind; sie sind einfach da und werfen uns gern zurück in Rollen, die wir eigentlich schon längst hinter uns gelassen haben sollten. Manchmal sind diese Erinnerungen glücklich und bieten und Geborgenheit wie die Liebe einer Mutter. Häufiger allerdings haben sie die Schärfe von Raureif, die zuerst beißt, dann betäubt und schließlich als eisige Kälte tief in die Knochen kriecht.
Schon merkwürdig: Wenn man sich sicher fühlt, fällt einem partout nicht mehr ein, was man eigentlich machen wollte, aber wenn man um sein Leben rennt, erinnert man sich an die ganze Liste von Dingen, zu denen man nie gekommen ist.
Zum Beispiel wollte ich nicht schon immer mal zusammen mit einem schnurrbärtigen Typen sinnlos besaufen, ihn auf seine Bude schleppen, noch ein paar Gläser mehr kippen, bis die Möglichkeit eines ernsthaften Leberschadens in gefährliche Nähe rückt, und ihm dann, wenn er bewusstlos ist, die Hälfte seines Schnauzers wegrasieren.